“Der Politiker denkt an die nächsten Wahlen,
Der Staatsmann an die nächste Generation.”
Alcide de Gasperi
Am 8. November 2018 wählt die Europäische Volkspartei ihren Spitzenkandidaten für den Posten des Präsidenten der Europäischen Kommission. Die Frage ist einfach: Wer ist am besten geeignet, unseren Parteien zu helfen, die Europawahlen im nächsten Frühjahr zu gewinnen, Unterstützung durch den Europäischen Rat und das Europäische Parlament zu erhalten und letztendlich die Europäische Kommission zu leiten? Es geht um Leadership und Erfahrung. Es geht um Kommunikation und Sprachkenntnisse. Es geht um Werte, Visionen und ein glaubwürdiges Programm für die nächste Generation Europas. Das ist, was ich für uns, die EVP, vorschlage.
Eine Vision für Europa
Wir müssen nach vorne schauen und allen Europäern eine bessere, wertorientierte Zukunftsvision bieten. Meine Vision ist proeuropäisch, positiv und pragmatisch.
Proeuropäisch, da ich an eine intelligentere und bessere europäische Integration glaube. Wir brauchen mehr Europa, wo es Sinn macht, und weniger, wo es keinen macht. Was besser auf nationaler oder regionaler Ebene getan werden kann, sollte dort geschehen. Wir brauchen weniger blanken Nationalismus, und mehr echte nationale Eigenverantwortung in unserem gemeinsamen europäischen Projekt. Wir brauchen nationale und europäische Leader, die Entscheidungen gemeinsam treffen und volle Verantwortung für diese übernehmen.
Positiv, in dem Sinne, dass wir eine von Angst und Hass getriebene Politik abhalten müssen. Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Ja, Technologie wird unsere Arbeitsweise verändern. Ja, Migration ist eine Herausforderung. Und ja, wir haben alle Angst vor ständiger Veränderung und Umstellung. Aber das bedeutet nicht, dass Leader diese Ängste nähren sollten. Im Gegenteil, Leadership bedeutet, Chancen zu schaffen, für Stabilität zu arbeiten, Lösungen zu finden und Hoffnung für eine bessere Zukunft zu bieten.
Und pragmatisch, da wir für unsere gemeinsamen Herausforderungen konkrete, operative Lösungen finden müssen. Die digitale Revolution wird die Wirtschaft, Arbeit, Politik, Medien, Wissenschaft und möglicherweise die Zukunft der Menschheit verändern. Dies wird zusammen mit dem Klimawandel die größte Herausforderung sein, nicht nur für die nächste Europäische Kommission, sondern auch für die kommenden Generationen. Ich möchte Technologie im Dienst der Menschen sehen, nicht umgekehrt. Ich möchte einen Planeten sehen, der für alle lebenswert ist und bleibt.
In diesem kurzen Programm für die nächste Generation Europas behaupte ich nicht, die Lösung für alle aktuellen Herausforderungen der EU zu finden, noch gebe ich detaillierte politische Empfehlungen – ihre Zeit wird kommen. Mein Ziel ist es, einige der wichtigsten Herausforderungen vorwegzunehmen. Die zwei Hauptfragen unserer Generation sind die digitale Revolution und der Klimawandel. Dies sind transnationale Herausforderungen, die kein einzelnes Land alleine bewältigen kann. In Zeiten der Unsicherheit brauchen wir einen Anker – dieser Anker sind unsere Werte. Und diese Werte sind die Basis meiner sechs Punkte für die nächste Generation Europas.
1. Europäische Werte verteidigen
Im 20. Jahrhundert gewann die Europäische Volkspartei den Kampf der Ideen. Demokratie setzte sich gegen Faschismus, Kommunismus und Nationalismus durch, dank des unerbittlichen Kampfes unserer Gründerväter in ganz Europa – Ost und West, Nord und Süd. Wir haben das europäische Projekt ins Leben gerufen, Demokratie und Freiheit verteidigt und Frieden gebracht. Aber unsere Weltsicht kann nicht statisch oder selbstverständlich sein.
Unsere Werte werden sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Europäischen Union angegriffen – es ist Zeit, auf die Barrikaden zu gehen und sie zu verteidigen. Unsere Werte basieren auf der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Solidarität, der Gleichheit von Männern und Frauen, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören. In unsicheren Zeiten sind diese Werte der Anker unserer Sicherheit, das Fundament, das uns zu dem macht, wer wir sind, als Mitte-Rechts-Christdemokraten. Ohne diese Werte haben wir nichts und verzichten auf den moralischen Kompass, der uns in der Vergangenheit so gut geleitet hat.
“Wir halten unseren Kopf hoch, trotz des Preises,
den wir bezahlt haben, denn Freiheit ist
unbezahlbar.”
Lech Wałęsa
Wir können es jedoch nicht verleugnen – es gibt Unruhe in unseren Gesellschaften, Angst vor der Zukunft, ein Gefühl, dass das Beste vielleicht bereits hinter uns liegt. Ich verurteile diejenigen nicht, die versucht sind, für Populisten zu stimmen. Stattdessen möchte ich sagen: “wir hören euch”. Wir werden die Ängste in Bezug auf Technologie, Arbeitsplätze, Sicherheit oder Migration nicht ignorieren. Viele von ihnen sind legitim, aber sie müssen innerhalb unserer demokratischen Ordnung gelöst werden. Demokratie, individuelle Freiheit und Gerechtigkeit sind das, wofür wir seit Jahrhunderten gekämpft haben. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass es, sobald der Weg zum “Illiberalismus” eingeschlagen ist, schwierig sein wird, den Kurs neu zu bestimmen. Die illiberale Demokratie ist ein Widerspruch in sich und widerspricht dem, wofür die EVP steht.
2. Die digitale Revolution anführen
Die vierte industrielle Revolution – Künstliche Intelligenz, Robotisierung, Internet der Dinge, 3D-Druck und Digitalisierung – ist eine Realität und hat weitreichende Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Im Gegensatz zu früheren industriellen Revolutionen ist diese nicht inkrementell – sie schreitet schnell voran und ist “disruptiv”. Europa muss an der Spitze der technologischen Entwicklung stehen, sonst drohen wir in Rückstand zu geraten.
Die digitale Revolution anzuführen bedeutet, dass wir uns auf die Zukunft der Arbeit, Innovation und den Schutz des Einzelnen konzentrieren müssen. Die digitale Revolution verändert die Art, in der wir arbeiten und lernen. Wir wissen heute nicht genau, wie der Arbeitsmarkt im Jahr 2050 aussehen wird. Viele der Jobs von heute – seien es jene von Arbeitern oder Angestellten – werden morgen nicht mehr existieren. Es geht nicht darum, dass Maschinen unsere Arbeitsplätze übernehmen, sondern, dass wir mit Robotern zusammenarbeiten müssen, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Bildung besteht nicht mehr darin, eine Fähigkeit und viele Fakten zu erlernen, es geht vielmehr um lebenslanges Lernen und emotionale Intelligenz. Egal welche Fähigkeiten in der Zukunft erlernt werden, das Verständnis von Daten wird ein großer Teil davon sein. Mehrere Mitgliedstaaten sind bereits Vorreiter in diesem Bereich. Wir sollten auf ihrer Erfahrung für ganz Europa aufbauen.
Derzeit stammen alle 20 führenden Technologieunternehmen aus den USA oder China. Ohne Investitionen in Bildung, Innovation, Forschung und Entwicklung wird dieser Trend anhalten. Europäische Entscheidungen müssen die technologische Infrastruktur wie 5G-Netze verbessern und europäischen Unternehmen Möglichkeiten bieten, im digitalen Zeitalter erfolgreich zu sein. Moderne Finanzinstrumente und Gesetze, die die Voraussetzungen für Innovationen schaffen, werden dazu beitragen, den Weg nach vorn zu ebnen.
“ Erfolg in der Schaffung effektiver künstlicher
Intelligenz könnte das größte Ereignis in der
Geschichte unserer Zivilisation sein. Oder das
Schlimmste. Wir wissen es einfach nicht. “
Stephen Hawking
Gleichzeitig leben wir in einem Zeitalter der Plattformwirtschaft, in der der Wert von Daten ständig zunimmt. Dies bringt Fragen über den Schutz individueller Rechte mit sich. Big Data weiß bereits mehr über Sie und Ihre Präferenzen, als Sie denken. Verfassungen wurden geschaffen, um Individuen vor dem Staat zu schützen. Nun müssen wir daran arbeiten, Einzelpersonen vor der Nutzung ihrer privaten Daten durch große multinationale Unternehmen oder autoritäre Regierungen zu schützen. Als regulierende Supermacht kann die EU bei der Festlegung internationaler Regeln für künstliche Intelligenz und Robotisierung die Führung übernehmen: besser man ist ein Regelmacher, als ein Regelnehmer.
3. Die europäische Wirtschaft muss für alle funktionieren
Der Binnenmarkt hat vieles ermöglicht und ohne ihn könnten die europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht erhalten bleiben. Im Laufe der Jahrzehnte war der Binnenmarkt die Grundlage für Wachstum und Beschäftigung in Europa. EU-Mitgliedschaft bedeutet eine Steigerung des Wohlstands. Das Pro-Kopf-BIP hat sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. In einigen der ärmeren Mitgliedstaaten hat es sich mehr als verzehnfacht. Der Binnenmarkt hat in den vergangenen Jahren zur Schaffung von über 10 Millionen Arbeitsplätzen beigetragen. Der Euro ist die zweitwichtigste globale Reservewährung. Die Europäische Union befindet sich seit der Finanzkrise wieder auf einem soliden Wachstums-, Arbeits- und Investitionspfad.
Aber das ist natürlich nicht genug. Während die EU gut darin ist, den Kuchen zu vergrößern, waren wir weniger gut darin, ihn gleichmäßig zu verteilen, sei es zwischen Einzelpersonen oder den Mitgliedstaaten. Ein Großteil des heutigen Populismus, sowohl von rechts als auch von links, entstand aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit, einem Gefühl, dass unser derzeitiges Gesellschaftsmodell – einschließlich einer sozialen Marktwirtschaft und der Globalisierung – nicht alle fair behandelt. Das muss sich ändern. Wir alle wissen, dass Marktliberalisierung Wachstum stimuliert und Arbeitsplätze schafft. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie dies allen Europäern/Europäerinnen zugutekommen kann.
”Europa muss mehr sein, als nur ein Binnen-
markt, Waren und Geld.”
Jean-Claude Juncker
Europa muss sich auf moderne Quellen für nachhaltiges Wachstum stützen, einschließlich Digitalisierung, kreative Industrien, grünes Wachstum, Kreislaufwirtschaft, Start-ups, nachhaltige und innovative Nahrungsmittelproduktion und dergleichen. Weder schafft die EU selbst Arbeitsplätze, noch wählt sie neue Champions, sie kann aber günstige Rahmenbedingungen schaffen, um Unternehmen, Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen und Unternehmern/Unternehmerinnen in ganz Europa zu helfen, genau das zu tun. Die EU ist ein Verfechter des freien und fairen Handels und sollte es auch bleiben. Gleichzeitig müssen wir internationale Regeln verbessern, gegen unfaire Praktiken vorgehen, an Strukturreformen arbeiten und den Binnenmarkt vollenden. Die Umverteilung des europäischen Wachstums durch Wohlfahrtspolitik ist und bleibt in den Händen der nationalen Regierungen.
Die Zukunft des Euro ist ein entscheidender Teil unserer Wirtschaft. Ohne eine stabile und nachhaltige gemeinsame Währung können wir keine erfolgreiche Wirtschaft haben. In den kommenden Jahren müssen wir den Fortschritt zu einer echten Banken- und Kapitalmarktunion beschleunigen. Wir müssen auch unsere Stabilitätsmechanismen in einen Europäischen Währungsfonds umwandeln. Aber in erster Linie müssen wir weiterhin Vertrauen aufbauen, uns an die gemeinsamen Regeln halten, auf die wir uns geeinigt haben, und Solidarität zeigen, wenn einer von uns in Not ist. Das haben die EVP-Parteien während der Eurokrise getan, und das müssen wir auch in Zukunft tun. Ohne die schwierigen und verantwortungsvollen Entscheidungen der regierenden EVP-Parteien – von Irland bis Portugal, von Spanien bis Griechenland und Zypern – hätte der Euro nicht überlebt.
4. Bekämpfung des Klimawandels
Der Klimawandel ist eine der größten Bedrohungen für die Zukunft unseres Planeten. Die letzten 19 Jahre umfassten 18 der wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnung. Wenn es so weitergeht, werden die Durchschnittstemperaturen jedes Jahrzehnt um 0,2 Grad Celsius steigen. Der jüngste Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen bestätigt diesen Trend und warnt vor den Folgen einer weiteren globalen Erwärmung von über 1,5 Grad Celsius. Die Temperaturänderungen werden verheerende Auswirkungen auf unser gesamtes Ökosystem haben, einschließlich auf die Wetterlage, Biodiversität, das Niveau des Meeresspiegels, Ernährungssicherheit und Gesundheit.
In den vergangenen zwei Jahrhunderten konnten wir beispielloses Wirtschaftswachstum und Wohlstand schaffen, jedoch geschah dies nicht ohne Kosten. Es ist unsere Aufgabe, den Planeten zu schützen und seine Grenzen zu respektieren. Gleichzeitig sollte die EU nicht naiv sein. Wir müssen unsere strategischen Interessen verteidigen und unseren Mitgliedstaaten beim Übergang zu einer saubereren Wirtschaft helfen. Das bedeutet, dass unsere Klimapolitik nicht nur den Klimawandel angehen, sondern uns auch weltweit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen sollte. Die Reduzierung der europäischen Emissionen reicht nicht aus, um die Welt zu retten, aber die Technologie, die unsere bahnbrechenden Unternehmen entwickeln, wird dies tun. Wir sollten uns daher auf die Entwicklung sauberer Technologie und zirkulärer Geschäftsmodelle konzentrieren. Unternehmen, die heute Risiken eingehen wollen, werden die Leader von morgen sein.
“Es gibt keinen Planeten B, die Rettung unseres
Planeten Erde sollte unsere erste Priorität sein.”
Miguel Arias Cañete and Carlos Moedas
Die EU muss Dekarbonisierung in den Mittelpunkt ihres Programms stellen. Wir sollten bis 2045 auf ein kohlenstoffneutrales Europa hinarbeiten. Das Pariser Abkommen war ein guter Anfang, jedoch müssen wir ehrgeiziger sein. Die Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad Celsius ist notwendig und erfordert strenge Maßnahmen, sowohl für den Emissionshandel als auch für die Lastenteilung. Europa sollte diesen Wandel zusammen mit seinen Mitgliedstaaten, Regionen und Städten führen.
5. Migration managen
Der weltweite Anteil der Menschen, die außerhalb ihres Geburtslandes leben, ist im Laufe der Zeit mehr oder weniger stabil geblieben und liegt bei etwa 3%. Migration, in all ihren unterschiedlichen Formen ist hier, um zu bleiben. Wir können entweder so tun, als würde sie nicht existieren, oder die Herausforderungen, die sie mit sich bringt, direkt angehen. Ich schlage das Letztere vor. Wir haben die schlimmste Migrationskrise gelöst und nun ist es an der Zeit, allen Europäern zu zeigen, dass die Situation unter Kontrolle ist. Ohne die Bemühungen der EVP-Parteien in ganz Europa – von Malta bis Italien, von Bulgarien bis Schweden, von Griechenland bis Deutschland und Österreich – hätten wir die Migrationskrise von 2015 nicht überstanden. Jetzt müssen wir sicherstellen, dass sie sich niemals wiederholt.
Europa braucht eine kontrollierte und legale Einwanderung. Wir dürfen nicht zu einer unkontrollierten Situation wie jene in 2015 zurückkehren. Angesichts der alternden Bevölkerung und des Fachkräftemangels werden wir nicht überleben, wenn wir Mauern zu bauen. Die Aufgabe von Politikern besteht darin, Lösungen zu finden und diesen Übergang zu erleichtern, statt Angst zu schüren. Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union erleichtert unser Leben, wie zum Beispiel beim Reisen, im Studium oder in der Arbeit. Einwanderung von außen ist komplizierter, aber lösbar. Eine bessere Kontrolle der Außengrenzen ist eine Voraussetzung für die Freizügigkeit von Personen innerhalb der EU.
”Dieses Europa darf keine Festung werden, in
der wir uns vor den anderen abschotten.
Es muss offen sein.”
Helmut Kohl
Migration wird für die EU in den kommenden Jahren ein entscheidendes Thema bleiben. Die nächste Europäische Kommission sollte es in den Mittelpunkt ihrer Agenda stellen. Wir sollten zusammen mit dem UNHCR Asylzentren außerhalb der EU einrichten. Wir sollten Frontex stärken, denn ohne einen gemeinsamen Grenzschutz ist es schwierig, unsere gemeinsame Grenze zu schützen. Wir müssen auch gemeinsame Lösungen für wirksame Rückführungen derjenigen finden, denen in Europa kein Asyl gewährt wird. Wir sollten für jeden Mitgliedstaat eine Quote für Asylbewerber festlegen, die aus humanitären Gründen um Asyl anfragen. Wenn dies nicht funktioniert, müssen wir ein System flexibler Solidarität entwickeln, in dem die Mitgliedstaaten sich gegenseitig auf unterschiedliche Weise unterstützen können. Und schließlich müssen wir die Ursachen der Migration angehen, indem wir die Fähigkeit der EU stärken, in unserer Nachbarschaft zu arbeiten, und indem wir in Afrika in Wachstum und Beschäftigung investieren. Dies wird das Problem nicht direkt lösen, aber bringt uns zumindest einen Schritt näher in der Vermeidung einer zukünftigen Krise.
6. Ein sichereres Europa schaffen
Jahrzehntelang haben die Vereinigten Staaten europäische Sicherheit garantiert. Als überzeugter Befürworter unserer engen transatlantischen Beziehungen ist es schwierig für mich, zu akzeptieren, dass diese Garantie derzeit weniger eindeutig ist, als früher. Die bewusste Marginalisierung der USA aus der Weltpolitik bedeutet, dass wir mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen. Wir müssen eingreifen und das entstehende Machtvakuum füllen, sei es im Handel, in der Außenpolitik, in der Verteidigung oder im Multilateralismus. Wir sollten versuchen, Dialog und Partnerschaften in alle Richtungen aufzubauen. Aber wir sollten auch gegenüber Russland und anderen, die versuchen, unsere Mitgliedstaaten einzuschüchtern, entschlossen standhalten.
”Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig
verlassen konnten, sind ein Stück vorbei… Wir
Europäer müssen unser Schicksal wirklich in
unsere eigene Hand nehmen”
Angela Merkel
Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Grenze zwischen Krieg und Frieden durch Herausforderungen wie Cyberangriffe, staatenlosen und staatlich geförderten Terrorismus, Einmischung in unsere demokratischen Prozesse, illegale Migration und Informationskriege verwischt. Ihre Wurzeln liegen in andauernden Konflikten, erneuerten Machtkonkurrenzen und technologischen Durchbrüchen. Auch wenn bereits viel erreicht wurde, können wir Europa nicht ausreichend durch das bestehende Flickwerk an sicherheits- und verteidigungspolitischen Maßnahmen, Instrumenten und Akteuren schützen. Wir müssen sie unter einen Hut bringen.
Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen sollten ihre Anstrengungen zum Aufbau einer wirklichen Sicherheits- und Verteidigungsunion verstärken. Wir sollten auch die erste EU-Sicherheitsstrategie für künstliche Intelligenz entwickeln, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen, die durch künstliche Intelligenz entstehen. Auch müssen wir weitere Schritte unternehmen, um die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu verbessern. Dies erfordert eine enge Abstimmung mit den Mitgliedstaaten, der NATO und unseren Partnern. Wir müssen anfangen, mehr Verantwortung für eine der wichtigsten Aufgaben der EU zu übernehmen: Sicherheit.
Europa kommunizieren
Gäbe es eine Auszeichnung für die schlechteste Kommunikationsstrategie in der Geschichte der Weltpolitik, wäre die Europäische Union ein ernstzunehmender Kandidat. Die EU ist das erfolgreichste Friedensprojekt in internationalen Beziehungen. Doch die Wahrnehmung dessen, was sie tut oder wofür sie steht, könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Es genügt nicht, zu sagen, dass das digitale Zeitalter mehr Fake News mit sich bringt oder dass Menschen Geschichten gegenüber Fakten bevorzugen. In einer Ära von Informationskriegen muss die EU Kommunikation ernst nehmen.
Dies bedeutet nicht nur, moderne Kommunikationsmittel in sozialen Medien einzusetzen, sondern auch verständlich zu erklären, worum es in Europa geht. Die Abwehr von Fake News und Trollen wird auch eine wichtige Rolle spielen. Ein guter Anfang wäre, wenn Politiker aufhören würden, Brüssel für ihre eigenen Fehler verantwortlich zu machen und stattdessen beginnen würden, öffentlich Verantwortung für europäische Entscheidungen zu übernehmen. In Europa geht es um Transparenz, nicht um geheime Entscheidungen.
Das ist Europas Moment
Ich glaube, das ist Europas Moment. Wenn wir in den nächsten Jahren etwas richtig machen, werden wir auf diese Ära der versuchten illiberalen Demokratie und des Populismus zurückblicken, und diese als weitere gelöste Krise im europäischen Integrationsprozess betrachten. Wenn wir es nicht richtig machen, riskieren wir, in ein Zeitalter widerlichen Nationalismus und europäischer Irrelevanz zurückzukehren.
Es ist wichtig, dass wir uns für ein starkes, modernes Europa einsetzen, das die Welt prägt, anstatt von anderen geprägt zu werden. Dies bedeutet, dass die Differenzen zwischen Ost und West, Nord und Süd gemildert werden müssen. Erweiterungen waren nie einfach, doch waren sie immer das Richtige. Wir müssen besser unterstreichen, was uns verbindet, nicht, was uns unterscheidet. Wir brauchen mehr Solidarität, sei es in Bezug auf die Zukunft des Euro oder Migration. Wir brauchen einander.
”Die Einheit Europas war ein Traum von We-
nigen. Sie wurde eine Hoffnung für Viele. Sie ist
heute eine Notwendigkeit für uns alle.”
Konrad Adenauer
Die Europäische Union ist nicht perfekt und wird es auch nie sein. Sie wird immer mehr sein, als eine internationale Organisation, aber weniger, als ein Staat. In vielerlei Hinsicht geht es um eine permanente Entwicklung und Krisenmanagement. Oftmals gehen wir von einer Krise in ein gefühltes Chaos über, und schließlich finden wir eine suboptimale Lösung. Aber wir erreichen unsere Ziele. Genau das ist mit den Euro- und Migrationskrisen passiert, und das wird mit vielen unserer künftigen Herausforderungen geschehen. Wir sind eine Union der Unvollkommenheit. Und wir sollten lernen, diese an die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Nächstes Jahr, wenn die neue Europäische Kommission ihr Mandat beginnt, feiern wir den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Das Jahr 1989 war voller Hoffnung. Wir hatten gerade den Kommunismus besiegt. Autoritäre Regime brachen mit Hilfe von EVP-Parteien in allen Teilen Europas zusammen. Viele von uns glaubten, die meisten der 200 Nationalstaaten dieser Welt würden dann freie, liberale Demokratien und Marktwirtschaften werden. Tatsächlich waren die ersten Jahre nach dem Kalten Krieg vielversprechend. Europa war wiedervereint. Wir wussten sichtlich wenig, von dem, was vor uns lag.
”Politische Einheit bedeutet nicht
die Übernahme der Nation.”
Robert Schuman
1945 brach der Faschismus zusammen. 1989 brach der Kommunismus zusammen. Ich will nicht, dass 2016 der Anfang vom Ende der liberalen Demokratie ist. Wenn ich der führende Kandidat der EVP und schließlich der Präsident der Europäischen Kommission werden sollte, verpflichte ich mich, nicht nur unsere Werte zu verteidigen, sondern auch sicherzustellen, dass die Missstände, die zu einem Anstieg von Nationalismus und Populismus geführt haben, angegangen werden. Wenn diese Frustrationen nicht behandelt werden, wird sich die Situation verschlechtern. Dann wird Animosität zunehmen, Spannungen in den Vordergrund treten und Nationalismus steigen. Ich sage nicht, dass Europa zusammenbrechen wird, aber wir stoßen nun an die Grenzen der Toleranz. Genau jene Toleranz, auf der Europa aufgebaut wurde.
Noch nie hatte die Europäische Union einen Präsidenten der Europäischen Kommission aus einem nordischen Land, einem baltischen Staat oder aus Mittel- und Osteuropa. Hier geht es aber nicht um Herkunft, sondern vielmehr darum, Leadership und Erfahrung zu wählen. Ich komme aus einem kleinen Land, das neben einer expansionistischen Macht überlebt hat – ein Land, das immer für seine Werte und Existenz gekämpft hat. Ich war– beziehungsweise führte – immer in Koalitionsregierungen, die ständige Kompromissbereitschaft erfordern. Ich habe Erfahrungen aus erster Hand im Umgang mit einer populistischen Regierungspartei gemacht. Das sind alles Qualitäten, die nach den nächsten Europawahlen höchstwahrscheinlich von Bedeutung sein werden.
Wir sind eine Parteienfamilie, die an individuelle Freiheit und Verantwortung glaubt. Die Wahl liegt bei Ihnen. Ich bin davon überzeugt, dass Sie sich Ihre Meinung bilden und für die Person stimmen werden, die unseren Parteien helfen kann, die Europawahlen zu gewinnen, und letztendlich die Kommission für die nächste Generation Europas leiten wird. Willkommen in Helsinki!